Welt: Bauern fordern „Gentechnik light“ gegen den Klimawandel

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S. Selig

Artikel von WELT - Stand 23.10.2019 - Von Daniel Wetzel, Wirtschaftsredakteur

 

EU-Richter stufen neue Methoden der Pflanzenzüchtung wie Genmanipulation ein. Deshalb befürchtet die Landwirtschaft, dass sie keine Chance hat, sich dem Klimawandel anzupassen. Dabei kommen die genmutierten Waren ohnehin bald in Massen nach Europa.

In einem „Akt der Verzweiflung“ haben 23 landwirtschaftliche Verbände mit einem Offenen Brief von der Politik den ungehinderten Zugang zu neuen Methoden der Pflanzenzüchtung gefordert. Die pauschale juristische Einstufung neuer Züchtungsmethoden als „Genmanipulation“ durch den Europäischen Gerichtshof sei nicht sachgerecht, verhinderte die Anpassung der Landwirtschaft an den Klimawandel und verschlechtere die Biodiversität.

„Unsere Region leidet schon heute unter Klimaextremen“, sagte Marco Gemballa, Geschäftsführer der Agrargenossenschaft Zinzow bei der Präsentation des Forderungsschreibens in Berlin: „Ohne angepasste Pflanzensorten wird für uns Landwirtschaft immer häufiger zum Lotteriespiel. In dieser Situation wäre es schlicht fatal, auf dieses innovative Werkzeug zu verzichten.“

Hintergrund ist die erst 2012 veröffentlichte Methode CRISPR-Cas, die es erlaubt, minimal-invasiv in die Pflanzen-DNA einzugreifen. Anders als in der bisherigen Genmanipulation werden damit keine transgenen Pflanzen mit artfremden Erbgut erzeugt. Vielmehr handelt es sich um eine „Punktmutation“, wie sie auch in der Natur ständig vorkommt.

„Es lässt sich nicht unterscheiden oder nachweisen, ob eine vorliegende Mutation spontan in der Natur entstanden ist oder durch gezielte Mutagenese herbeigeführt wurde“, heißt es in dem Offenen Brief der Verbände.

Die Agrarverbände erzürnt, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil von 2018 die herkömmlichen Erbgut-Eingriffe bei Pflanzen mittels Strahlung oder Chemikalien nicht der umfangreichen Regulierung für „Gentechnisch veränderte Organismen“ (GVO) unterworfen hatte, die neue, zielgenauere, mildere und einfachere Züchtungsmethode jedoch schon.

„Das ist, als ob uns der EuGH verbietet, mit Angel und Haken fischen zu gehen und uns stattdessen Dynamit vorschreibt“, beschreibt Davis Spencer, Wissenschaftler an der RWTH Aachen und praktizierender „Science Slammer für Pflanzengenetik“ die fragwürdige Rechtsauffassung der Europarichter.

Navigationssystem für die Pflanzenwelt

Während die Landwirte durch Umwelt- und Klimapolitik einem ständig wachsenden ökonomischen Druck ausgesetzt sind, werde ihnen auf der anderen Seite ein innovatives Werkzeug für mehr Klimaschutz und Klimafolgen-Anpassung aus der Hand geschlagen, kritisierte Hennig Ehlers, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Raiffeisenverbandes (DRV) in Berlin. Der EuGH habe sich in seiner Rechtsprechung auf ein Gesetz aus dem Jahre 2001 bezogen, dessen wissenschaftliche Grundlage aus den 1980er Jahren stammte. Es sei dringend nötig, die Gesetzeslage dem aktuellen Stand der Wissenschaft anzupassen.

„Um Ernteausfälle infolge des Klimawandels zu minimieren und Agrarsysteme weniger anfällig gegen immer stärker schwankende Anbaubedingungen zu machen, müssen Nutzpflanzen widerstandsfähiger gegen Wassermangel, Versalzung, Hitze, Kälte, Krankheiten und Schädlingen sein und sollten darüberhinaus eine höhere Nährstoffeffizienz aufweisen“, heißt es dazu in dem Offenen Brief: „Die Neuen Züchtungsmethoden haben das realistische Potenzial, innerhalb relativ kurzer Zeit zur Lösung solcher Herausforderungen beizutragen.“


„Das Kartoffelgenom ist seit 2011 vollständig entschlüsselt, wir haben damit ein Navigationssystem, das uns in der Pflanzenzüchtung direkt zum Ziel führt. Entscheidend ist jetzt, ob wir zu Fuß gehen oder mit dem Auto fahren“, umschriebt Heinrich Böhm von der Kartoffelzucht Böhm GmbH & Co. KG in Lüneburg das Problem: Wenn man Kartoffelsorten auf dem Wege herkömmlicher Kreuzungen gegen Pilzbefall resistenter machen wolle, dauere das 20 bis 25 Jahre. Durch den gezielten Einschnitt in das Genom mittels CRISPR-Cas erreiche man dasselbe Ergebnis in einem Bruchteil der Zeit.


Da in vielen landwirtschaftlichen Exportländern die Methode bereits ohne Regulierung eingesetzt werden darf, werden bald große Mengen an pflanzlichen Rohstoffen, die auf der neuen Züchtungsmethode basieren, angeboten werden. Bleibe es bei der europäischen Rechtssetzung, setzten sich europäische Importeure einem hohen juristischen Risiko aus, warnte Oliver Balkhausen von der Archer Daniels Midland Company (ADM).


Pflanzliche Rohstoffe, die von der EU als genmanipulierter „GVO“ eingestuft werden, brauchen Herkunftsnachweise, Sicherheitsbewertungen und unterliegen einer Kennzeichnungspflicht. Die umfangreichen Auflagen gefährdeten den Import der in Europa benötigten Futtermittel und Agrarrohstoffe, warnte Balkhausen: „Damit die internationalen Handelsströme weiterhin funktionieren und die Versorgungsmärkte nicht gefährdet werden, müssen die Bestimmungen zu agrarischen Rohstoffen verschiedener Weltregionen miteinander kompatibel sein.“

 

Den Originalbeitrag finden Sie unter: https://www.welt.de/wirtschaft/article202394024/Neue-Zuchtmethoden-Bauern-fordern-Gentechnik-light-gegen-den-Klimawandel.